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Stille.

Stille ist doch irgendwie ein ambivalentes Ding.
Fast jeder wünscht sich absolute Stille, Ruhe und Abgeschiedenheit, meist wird dieser Zustand mit innerer Ausgeglichenheit und Frieden gleichgesetzt. „Ich brauche meine Ruhe“ oder „Mir ist das zu viel, ich brauche meine Auszeit“ sind dabei Sprüche, die ein jeder und eine jede gehört und womöglich schon selbst geäußert hat. In Zeiten des schnelllebigen Seins durch Social Media, dem Internet und einer globalisierten Kommunikationswelt prasseln dutzende Informationen aus aller Welt und von überall auf uns ein. Jede Krise, jedes Problem, jeder Unfall, jede Sorge kann mit uns in Sekunden geteilt und als Information in unsere Wahrnehmung gelangen, uns beschäftigen und womöglich sogar belasten.
Stille.
Weg von der Hektik und dem Trubel des Alltags ist durch die Corona – Pandemie vor allem eine sonst eher müde – belächelte „Sportart“ wiederentdeckt worden: Das Spazieren gehen.
Eine körperliche Tätigkeit, von jüngeren Generationen eher negiert, feiert seine Wiedereingliederung in den Mainstream und wird als Mittel genutzt, um aus den eigenen vier Wänden zu entfliehen und eine Vernetzung mit sich und der Natur zu forcieren.
Zumindest in der Theorie.
Wie Menschen allgemein das „Spazieren gehen“ ausleben, weiß ich nicht, ich kann nur für mich sprechen und ich habe meine eigene Art und Weise gefunden, „Stille“ und „Spazieren gehen“ für mich als Ventil zu finden. Ein Ventil, welches mir die Möglichkeit eröffnet, den Weg zurück zu mir zu finden und absolute Stille und auch Ruhe zu erfahren. Durch Zufall und dann wieder auch nicht kam ich auf die Idee, mich dieser Herausforderung zu stellen, durch Erfahrungen in der Natur meine persönliche Stille und innere Ruhe zu finden.
Daher kam mir diese Aufgabe, einen Spaziergang im Grünen zu machen, sehr entgegen und erfüllte mich mit viel Vorfreude und einer Prise Spannung.

Inspiriert von meinem Vater und seinen Freunden, die häufig lange Strecken erwandern und dabei grandiose Aktionen gemacht haben wie den Neckarsteig am Stück in 34h zu erlaufen (143km) oder den Watzmann (Brechtesgardener Schicksalsberg südlich von Salzburg) an einem Tag zu be- und – entsteigen, erarbeite ich mir ebenfalls ein Repertoire an längeren Strecke. Ich habe nie so wirklich verstanden, was so toll dabei sein soll, stundenlang eine Strecke von A nach B zu laufen, wenn ich doch auch viel schneller da hinkomme. Was soll daran so besonders sein? Doch ich lag so falsch, wie ich nur falsch liegen konnte, und ich versuche, wahrscheinlich mehr schlecht als recht, einen kleinen Einblick zu geben, worin die Magie des Bewegens und der Ruhe liegt.

Für diesen Spaziergang, ich nenne es liebevoll „Joggwalk“, suchte ich eine mir noch unbekannte Strecke aus. Diese führte mich von Tübingen durch den Wald nach Dußlingen über Stokach nach Derendingen und in die Tübinger Innenstadt, um von Tübingen aus wieder nach Weilheim zu gelangen. Insgesamt knapp 21 km mit knapp 300 Höhenmetern und vor allem eins: viel Wald und Natur.
„Joggwalk“ ist dabei eine Mischung aus „Joggen“ und „Walken“, also lockeres Rennen und schnelles Laufen. Ich achte beim Laufen auf meine Atmung und mein Wohlbefinden, aber auch auf mein Lauftempo und vor allem auf eines: das Umfeld, in dem ich mich bewege!
In den seltensten Fällen höre ich dabei Musik oder Podcast, sondern bin nur den äußeren Gegebenheiten entsprechend angezogen: passendes Schuhwerk, funktionale Kleidung, die warm hält und das wars. Frei nach dem Motto „Me, myself and I“ ziehe ich los. Im Vorfeld überlege ich mir immer, wie schnell ich die Strecke ungefähr erlaufen will, wo und ob ich eine Pause brauche und ob eine Wasserflasche wirklich nötig ist. Meist aber eher nicht.
Und schon kann es losgehen.
Auf dem Weg von Weilheim nach Dußlingen geht es durch den Wald und anfürsich gut begehbare Feldwege. Ich gehe zügigen Schrittes und nehme das gute Wetter wahr: Kaum Wolken, 15 Grad, die Sonne scheint. Der Boden ist uneben, aber fest, Kies unter den Schuhen knirscht leise bei jedem meiner Schritte. Im Wald ist es still. Hier und da knackst es im Geäst, Vögel singen ihr Lied und in der Ferne höre ich einen Specht mit seinem Schnabel einen Baum bearbeiten.
Der Wald riecht holzig und süßlich, der Frühling ist im vollen Gange und ich atme mit jedem Atemzug frische, reine Luft. Keiner Menschenseele begegne ich auf den ersten zwei Kilometern. Es geht leicht bergauf, immer weiter, nicht sehr steil, aber eben konstant.
Ich nehme die Szenerie wahr, bin ein Teil der Natur und meiner Umwelt. Langsam werde ich warm, meine Knöchel, meine Knie, meine Hüfte, mein Rücken, ich merke, dass mein Körper bereit ist und mehr will. „Na dann, losgehts mein Lieber!“.
Kilometer drei, ein Fahrradfahrer. Wir grüßen uns kurz zu und gehen weiter unserer Wege, ich den Hang hinauf, er hinab. Ich atme schneller und tiefer, mein Gang weiterhin fokussiert und fest.
Langsam und stetig schwitze ich, doch ich begrüße diesen Umstand sehr.
Immer mehr finde ich meinen Fokus, ich nehme mich als Einheit war und nicht nur mich, sondern ich als Fremdkörper im Wald verschmelze zu einer Symbiose eines großen Ganzen.
Es ist ein erhabenes Gefühl, ein Teil dieser Natur zu sein, ein kleiner Teil, den in diesem Moment niemand wahrnimmt, eine Schrödinger Katze. Bin ich da oder bin ich nicht da? Wer weiß das schon? Und noch viel besser: Niemand sieht es. Niemand weiß es. Ich könnte sonstwo und nirgends sein.
Still ist es dennoch nicht.
Gedanken kreisen in meinem Kopf. Positive, aber auch negative. Ich bin gefangen in einer Spirale von Gedanken aus der Vergangenheit und Gedanken aus der Zukunft. Der Wald um mich verschwimmt zu einer homogenen Masse, ich bin mittendrin und doch irgendwie sehr weit weg. Die Welt ist da, ich spüre sie ganz deutlich, mit all ihren positiven wie negativen Lastern, ihren Sorgen und langsam aber sicher schweift mein Blick weg von der Natur stoisch auf den Boden. „Jetzt reichts, konzentrier dich, sonst kommst du nie an Klaus“, schimpfe ich mit mir und ein wenig muss ich dabei lächeln.
Ich alleine im Wald, rede mit mir darüber, was ich denn zu tun habe. Grotesk.
Kilometer 6. Ich nähere mich wieder merklich der Zivilisation.
Eine Straße, Autos, vereinzelt gehen Menschen spazieren, joggen, fahren Fahrrad. Mittendrin ich, ein kleiner Punkt auf der großen Karte der Welt, inmitten dem Versuch, Stille zu erfahren.
Die Sonne scheint, es ist warm, ja, sehr sogar. Ich schwitze, seitdem ich das erste Mal angefangen habe und es hört nicht auf. Und mit diesem Schwitzen verschwinden meine Gedanken immer mehr.
Anfangs unmerklich, dann immer mehr. Mit jedem Schweißtropfen entweicht eine Sorge, ein Gedanken, eine Empfindung, mit jedem Meter entweicht eine gewisse Emotionalität und ich genieße es in vollen Zügen. Es ist vergleichbar mit einer Saune, nur eben nicht so heiß oder so stickig, nein, eher befreiend und erfüllend!
Ich denke nicht mehr, ich bin da. Im Hier und Jetzt.
Mein Herzschlag, irgendwo ist der doch? Da! Ich spüre ihn! Kontrolliere meinen Atem, meine Bewegungen werden nicht bedacht, es fühlt sich eher wie ein motorisierter Automatismus an.
Ein Auto fährt vorbei. Und noch eins. Ich sehe sie, ich höre sie und nehme sie doch nur als Schleier wahr.
Kilometer 7. Ich bin da. Bei mir und meiner persönlichen Stille.
Ich laufe weiter, meine Sportuhr zeigt mir an „9.54min/Kilometer“, doch es fühlt sich weder schnell noch langsam an, es ist wie in einem Fluss, ganz natürlich, fließend.
Meine Gedanken über Fehler der Vergangenheit, über Ängste der Zukunft, über Probleme, Sorgen, Streit und Zweifel scheinen weg, irgendwo ganz weit hinten in meinem Bewusstsein.
Ich merke nicht, dass ich in Stockach bin, einem kleinen Dorf vor Tübingen.
Wo geht’s weiter? Kurzer Blick auf meine Uhr, in der ich meine Route eingespeichert hab, vorbei an Wohngebäuden, einem kleinen Bauernhof in ein kleines Waldstück.
Und wieder die Magie der Bäume und des Geästs.
Überall knackt es, ich spüre den unebenen Boden unter meinen Füßen, spüre mein Shirt an meinem Körper kleben und fühle mich wieder so klein und unscheinbar, wie man sich nur fühlen kann.
Was für ein großartiges Gefühl! Links, rechts, links, rechts, immer weiter.
Ich verschmelze mit meiner Umwelt und bin doch eines: ein Fremdkörper.
Innehalten? Nein.
Ich will die Szenerie nicht durch meine Anwesenheit stören. Der Wald, in seiner Magie und seinem Sein, ist ein magischer Ort, ich will ihn und seine persönliche Stille nicht länger stören, als ich wirklich muss. Ich bin ein Reisender auf Durchreise, erlabe mich an den Köstlichkeiten Mutter Naturs und will nur kurz vorbeischauen, nicht stören!
Die Sinne werden hier wieder angesprochen, wie ich es sonst nirgends kenne. Ich rieche ungekannte Düfte, ich schmecke schon fast die Luft, sehe überall Formen, Gebilde, Figuren, höre mich und die Vögel, spüre den Boden unter mir, den leichten Windhauch auf meinen Armen und im Gesicht und bin im Moment gefangen.
Weiterlaufen.
Zwischendrin jogge ich ganz leicht, nie besonders schnell oder ausgiebig, aber ich will ja auch ankommen, zuhause. Doch will ich das wirklich? Hier ist es doch auch gut, kann ich diesen Zustand nicht einpacken und mitnehmen? Einfrieren und immer wieder auftauen, sodass er lange über bleibt und ich ganz lange was davon habe?
Ich verstehe es nicht. Wie kann ich schon in Derendingen sein? Kilometer 13? Jetzt schon?
Ich bin etwas über 1 1/2h unterwegs und es fühlt sich an wie eine Ewigkeit, ein halbes Leben, eine surreale Parallelwelt.
Am liebsten würde ich die erstbeste Person schnappen und ihr ins Gesicht rufen, dass ich da bin.
„Hallo, ich bin hier! Ich bin da!“ Da bei mir, im inneren Einklang mit mir.
Plötzlich wird mir bewusst, wie still es ist. Nicht um mich herum, sondern in mir.  
Die Steinlach fließt an mir vorbei, überall flanieren Menschen mit Kinderwägen, ihren Hunden und unterhalten sich, mal laut und mal leise und auch hier: Ich fühle mich wie ein Fremdkörper.
Die Stille in mir wird jedoch nicht weniger, im Gegenteil.
Ich denke jetzt an nichts. Inmitten des Trubels eines guten Wettertages in einer kleinen Großstadt wie Tübingen bin ich allein mit mir.
Was für ein Gefühl! Ich sehe nichts, ich höre nichts, ich rieche nichts, obwohl ich umgeben bin von Leben, Liebe und Trubel.
Kilometer 16.
Die Reise geht mitten durch die Stadt, am Schlossberg vorbei durch den Fahrradtunnel vorbei, weiter Richtung zuhause. Meine Beine sind schwer, meine Hüfte, meine Knie, selbst mein Rücken melden sich: Hallo Klaus, wir sind auch da! Jedoch nicht schmerzhaft oder unangenehm, nein, auch mein Körper signalisiert mir: er ist da.
Der Trubel um mich herum wirkt sich immer mehr auf mich und meine Gedankenwelt aus.
Die Stille wird weniger. Immer wieder kommen Gedankenfetzen durch, woran ich noch denken muss für die kommende Woche. Habe ich alle Aufgaben erledigt, die ich erledigen wollte? Fehlt etwas? Und wie war das damals in der 6. Klasse, als ich einen Eintrag ins Klassenbuch bekommen habe, weil eine Hausaufgabe nicht abgegeben wurde und unsere Lehrerin damals meinte, alle eintragen zu müssen? Ganz ehrlich, wieso hat sie das damals gemacht?
Ich lache lauthals los, ohne dass es jemand sieht oder mitbekommt. Ich lache in mich hinein. Was für abstruse Gedanken nach/während/ bei einer solchen Wanderung, nachdem ich doch so in mir geruht war!
Ich setze wieder zum leichten Joggen an, vorbei am Neckar Richtung Weilheim, parallel zur Bundesstraße. Still ist es hier nicht.
Der Zug fährt an mir auf den Gleisen vorbei, Autos und Motorräder rauschen wenige Meter von mir entfernt an mir vorbei.
Ich sehe sie, ich höre sie und doch interessieren sie mich nicht. Ich bin bei mir, mit meiner Erfahrung der gewonnen Stille, für wenige Meter und Momente, aber der absoluten Gewissheit, ganz und gar bei mir gewesen zu sein, im Hier und Jetzt. Nicht im Gestern oder Morgen, nicht im „was wäre aber wenn und dann vielleicht doch“ sondern vollkommen da. Doch wie kann ich sowas beschreiben, ohne dass mich jemand für verrückt erklärt, mich auslacht oder überhaupt nicht verstehen WILL, was ich meine?!
Das Wetter ist weiterhin extrem gut, ich biege in die Straße ein, in der ich wohne, die Straße, die ich seit vielen vielen Jahren so gut meine zu kennen.
Und plötzlich entdecke ich neue Dinge: Stand dieser Busch da schon immer? Und was sind das eigentlich für gelbe Blumen, die hier blühen? Was ist das auf dem Dach da, ein Blitzableiter?
Die Stille ist gewichen, stattdessen ist eine innere Wärme da, eine Zufriedenheit, sich für ein paar Minuten genug gewesen zu sein, für ein paar Minuten bei sich und nur bei sich gewesen zu sein, ohne Gedanken, ohne Emotionen und ohne Einflüsse von außen. Paradox, oder?
Zwischen Bäumen und Blättern, im gefühlten Nirgendwo, auf Schotter und Kieswegen, allein und in einem Umfeld, in welches ich nicht dazugehöre, finde ich mich immer wieder aufs Neue merke ich.
Mich und die Gewissheit, dass Stille etwas sein kann, was ich immer und überall finden kann, ich muss nur aufhören, danach zu suchen sondern mich in dem Sog des Seins hingeben.
Dieser „Joggwalk“ war nicht meine erste Erfahrung mit dem Thema „Stille“, aber es ist die erste, die ich versuche, zu erklären, greifbar zu machen, zu verbalisieren.
Und irgendwie fühlt es sich komisch an, aber auch erleichternd und beschwingend, weil ich eines ganz sicher weiß: Stille kann überall sein. Man muss nur aufhören danach zu suchen.